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Erfahrungen
Am Anfang ist die Welt in Ordnung. Der Körper ist noch fit, die Strecke von der Karte her begreifbar und ziemlich unkompliziert. Und jeder hat das Gefühl, für die nächsten 3.000 Kilometer gewappnet zu sein. Dieses Gefühl würde so bleiben, wenn die Sonne bei angenehmen 25 Grad Celsius schiene, ein laues Lüftchen ganztägig von links oder rechts hinten wehte, der Hintern auf einem Sofa ruhte, wir langsam über flaches Terrain und feinst asphaltierten Straßen dahin glitten und irgendwann nach 2 Stündchen eine entspannende Tasse Kaffee und ein Törtchen zu uns nähmen, um dann anschließend am Abend nach einem wunderbaren Essen zufrieden in unser Bettchen zu fallen.
Aber es sollte ganz anders kommen!
Die erste Irritation trat auf, als wir an einem Sonntagmorgen die Fähre in Trelleborg verließen und uns auf den Weg in Richtung Norden begaben. Es gab nur eine vierspurig ausgebaute Straße. Als Radfahrer haben wir so ein Ding noch nie benutzt. Aber da es offensichtlich keine Alternative gab, sind wir da einfach gefahren. Jedes Mal wenn sich ein Auto von hinten näherte, haben wir mit einem Hupkonzert wild gestikulierender Autofahrer gerechnet, die uns letztendlich den Vogel zeigten. Dies alles blieb aus. So genossen wir nach einiger Zeit die wunderbare Straße und das herrliche Sommerwetter in Südschweden.
Im Laufe des Vormittags frischte der Wind auf, natürlich von rechts vorne kommend und die Temperaturen stiegen immer weiter an, bis wir vor lauter Hitze kaum mehr fahren konnten. Am Nachmittag des zweiten Tages stellten sich aufgrund der immer nass geschwitzten Haut erste Entzündungen im Gesäßbereich ein, denen wir mit Salben und Pflastern entgegen zu wirken versuchten. Diese Versuche sollten uns die nächsten eineinhalb Wochen begleiten. Um unser Ziel Nordkap wegen der Hitze nicht zu gefährden, beschlossen wir, morgens um 5 Uhr zu starten und dafür während der größten Hitze zu pausieren.
Am 4. Tag unserer Reise ereilte uns dann gegen 10 Uhr morgens ein Gewitter mit anhaltendem Platzregen, vor dem wir uns mit knapper Not in ein Bushäuschen retten konnten. In diesem Häuschen verbrachten wir die nächsten vier Stunden mit angezogenen Beinen und wegen der plötzlich einsetzenden Kühle, in eine Ecke gekauert. Während dieser Zeit haben wir die erste Hölle erlebt. Entweder die Gewitterfront war so riesig oder sie bewegte sich nicht von der Stelle. Ständig schlug irgendwo um uns herum ein Blitz ein. Einer pulverisierte einen Telefonmasten, ca. 70 Meter von uns entfernt. Endlich am Nachmittag konnten wir unsere Fahrt fortsetzen, um dann am Abend unseren ersten Kriegsrat zu halten.
Uns war klar, dass wir gegenüber unserem Zeitplan bereits am 4. Tag einen Tag zurücklagen. Gemeinsam haben wir beschlossen, die Tageskilometerleistung zu steigern, obwohl die Hinterteile fast bluteten. Die folgenden Tage waren gekennzeichnet durch Wind aus der falschen Richtung, morgens bedecktem Wetter und am Nachmittag häufigen Regen. Und das Streckenprofil war nicht mehr so, wie wir es von unserer Autofahrt im Jahre 1995 in Erinnerung hatten. Hinzu kam, dass unsere Energiereserven im Körper aufgebraucht waren. Schließlich sind wir ja keine professionellen Radfahrer. Also mussten wir zusehen, dass wir oben soviel reinstopften, dass es 2-3 Stunden hielt.
Kommunikation
Hier sei noch ein Wort zur Kommunikation gesagt. Zum Nordkap zu radeln ist eine einsame Sache, für den der vorne fährt genauso wie für den der hinten fährt. Am Anfang haben wir noch versucht, uns zu unterhalten. Aber aufgrund der Fahr- und Windgeräusche haben wir schnell gemerkt, dass es den Erzähler nervt, wenn der Zuhörer ständig und mehrmals je Satz rückfragt und dann irgendwelches wirres Zeug antwortet.
So haben wir unsere akustische Kommunikation auf zwei Worte, nämlich „Stopp!“ und „Langsamer!“ und eine Lautfolge ähnlich „Huuhu!“ beschränkt. Die Lautfolge diente dem Vordermann dazu, abzuschätzen wie weit der Hintermann weg war. Wenn kein „Huuhu“ zurückkam, war es an der Zeit, sich umzublicken oder langsamer zu fahren bis der Hintermann wieder aufgeholt hat. „Stopp!“ und „Langsamer!“ verwendet nur der Hintermann, der Vordermann verständigt sich mit entsprechenden Handzeichen. Das klappt wunderbar.
Motivation
Allein die Erfahrungen der ersten vier, fünf Tage verlangten nach Motivatoren, die anfangs nicht leicht zu finden waren, da ja noch weit über 2.000 Kilometer vor uns lagen. Aber wir fanden Formulierungen, die der verbleibenden Strecke den Schrecken nahm: „Morgen haben wir bereits 1.000 Kilometer geschafft!“ Kurz darauf haben wir gesagt: „Wir haben die Hälfte hinter uns!“ Daran anschließend kam: „Morgen sind wir am Polarkreis!“ oder „In drei Tagen haben wir es geschafft!“ Und die anfängliche Hitze und das Gewitter haben bewirkt, dass wir uns Schlimmeres kaum vorstellen konnten – so wenig Fantasie hatten wir damals.
Weitere Erfahrungen – eine neue Überraschung
Was uns zunächst blieb, war der Wind aus der falschen Richtung, der schmerzende Po und eine hügelige, wunderbare Landschaft. Sonnenschein stellte sich wieder ein aber die große Hitze blieb dieses Mal aus. Irgendwo nach der Hälfte der Distanz haben sie uns dann ereilt – Herz und Sorgfalt nordischer Straßenbauer.
Wenn Schweden Straßen reparieren, machen sie das mit einer Gründlichkeit, die uns Deutschen zum Ruhme gereichen würde. Sie entfernen einfach über eine längere Strecke den gesamten Belag auf beiden Straßenseiten und setzen darauf erst einmal den neuen Schotterunterbau und was eine Straße sonst noch braucht, damit sie wieder einige Jahre hält. Um dem Radfahrer jegliche Hoffnung zu nehmen, die Baustelle könnte hinter der nächsten Kuppe zu Ende sein, steht gleich am Anfang ein Schild, mit der exakten Länge der Baustelle, z.B. „0 – 18,9 km“. Je nach Fertigstellungsstadium hat man zur Reisezeit die Wahl zwischen groben Schotter, der Radfahren fast unmöglich macht oder feinerem Schotter, der es in der Autofahrspur erlaubt so ca. 10 km/h zu fahren.
Wir hatten 5 Baustellenmonster mit insgesamt knapp 70 km zu überwinden. Dies waren die einzigen Passagen, wo wir uns gewünscht hätten, auf einem Mountain Bike oder einem Trekking-Rad zu sitzen. Mit unseren Triathlon-Rädern auf den 18 mm Reifen war es ein Eiertanz, der ewig nervte. Diese insgesamt 10 Stunden waren bis dahin die schlimmste Erfahrung, die wir gemacht haben. Hinzu kam noch, dass der Schotter durch die Sonneneinstrahlung Hitze abstrahlte.
Also denkt daran. Diese Baustellen kommen hundertprozentig. Nehmt wenig Gepäck mit und wählt Eure Reifen so, dass ihr einigermaßen durchkommt.
Karesuando – Womit man auch rechnen muss
Es gab auf der Hinfahrt zwei Tage, an denen wir ihn genießen durften, den Wind von hinten. Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie wir durch einen Teil von Finnland flogen. In entspannter Haltung auf dem Lenker liegend sind wir dahingerollt, keine Windgeräusche, nur ab und zu das neue Wort von Olga, die sogar bei diesen Verhältnissen den Windschatten nutzte: „Schneller!“ Nie habe ich damit gerechnet. Und noch nie auf unserer Tour fuhr ich so lange hinter ihr her wie an diesem Tag.
Natürlich konnte es nicht ewig so bleiben, und tatsächlich ereilten uns wieder Regen, Kälte und Gegenwind. Die Kombination war so heftig, dass wir uns in der Grenzstation Finnland/Norwegen aufwärmen mussten.
Woran man auch denken sollte (Mücken)
Nach reichlicher Nahrungs- und Flüssigkeitszufuhr sowie einem Hochleistungsstoffwechsel muss der menschliche Körper Nichtverwertbares wieder ausscheiden. In den skandinavischen Ländern muss dieses Bedürfnis schnell erledigt werden, besonders an windgeschützten Stellen. Sofort finden sich in kürzester Zeit Hunderte von Stechmücken ein, die noch das Letzte aus einem herausholen. Dies gilt für den, der die Fahrräder hält, genauso wie für denjenigen, der sich gerade in den Büschen aufhält. Nur der, der zeitweise die Hosen unten hat, ist besonders übel dran.
Wieder auf den Rädern, lässt sich die Plage bei einer Geschwindigkeit von ca. 15 km/h wieder abschütteln. Jetzt muss man sich nur noch gegenseitig die Mücken vom Rücken klopfen.
Was sonst noch kommen kann - Tunnels
Wir wussten es ja und wir haben uns vorbereitet. Im hohen Norden, zwischen Alta und dem Nordkap, gibt es einige Straßentunnels und eigens dafür haben wir eine Fahrradbeleuchtung mitgenommen. Derjenige, der hinten fuhr, hat die Rückleuchte, der Vordermann den Scheinwerfer. Jetzt im Nachhinein haben wir erfahren, dass das Befahren wohl verboten sei. Aber es war nirgendwo ein Verbotsschild und so sind wir eben durch.
Insgesamt haben wir 5 Tunnels durchfahren, alle unproblematisch – bis auf einen: Nordkapp Tunnelen. Vor einigen Jahren brachte eine Fährverbindung Fahrzeuge und Besucher nach Honnigsvag. Dann wurde ein Tunnel gebaut und der Fährbetrieb eingestellt. Das heißt, ein Tunnel führt den Verkehr unter dem Meeresgrund durch in die Nähe von Honnigsvag. Er hat eine Länge von knapp 7 Kilometern und liegt an seiner tiefsten Stelle ca. 300 Meter unter dem Meeresspiegel.
Für diese Passage haben wir wieder die Beleuchtungskörper angebracht und uns in unsere Regen-/Windjacken gepackt. Und dann ging’s los, hinab in die Tiefe. Am Anfang haben wir es recht zügig rollen lassen, bis es uns zu kalt wurde. Dann begann ein Teilstück im Tunnel, in dem die Tunnelbeleuchtung ausgefallen war. Vor uns war alles schwarz. Olga fuhr mit dem Scheinwerfer voraus. Durch den neuen und feuchten Straßenbelag im Tunnel wurde fast das gesamte Licht geschluckt. Ich habe weder Olga, die wohl unmittelbar vor mir fuhr, noch die Straße gesehen. Um den Abstand zwischen uns abschätzen zu können, haben wir wieder über die oben beschriebene Lautfolge kommuniziert. Trotzdem konnte ich nie sicher sein, meine Frau nicht im nächsten Moment über den Haufen zu fahren. Deshalb habe ich sie angewiesen, in der Nähe des Mittelstreifens zu fahren. So wusste sie genau, wohin die Straße führte
und ich konnte an ihr vorbei ab und zu eine Markierung erkennen und abschätzen, wo sich Olga gerade befand. Diese Situation haben wir während der ersten Viertelstunde zweimal erlebt. Hinzu kam, dass wir ständig bergab fuhren und die Kräfte in den Fingerspitzen durch das permanente Bremsen langsam schwanden. Auf der gesamten Tour haben wir recht selten gebremst, aber hier mussten wir es dauerhaft tun.
Endlich waren wir unten angekommen und freuten uns über ein Stück waagrechte Strecke. Aber die Ingenieure führten den Tunnelverlauf gleich wieder nach oben. Also raus aus den Sätteln und im Wiegetritt langsam die 3,5 Kilometer 8 bis 10 Prozent Steigung wieder hoch. Nach nicht einmal 5 Minuten waren unsere zuvor durchgefrorenen Körper fast am Explodieren. An Absteigen und Ausruhen war nicht zu denken, da wir mit Klickpedalen fuhren und beim Absteigen Gefahr liefen, auszurutschen und mit den Rädern umzukippen. Nach etwa einer halben Stunde Tunnelerlebnis hatten wir endlich den Ausgang im Blick und die Maut-Stelle.
Olga hat beim Anblick des Zahlhäuschens präventiv signalisiert, dass sie nicht gewillt ist, irgendeinen Betrag zu bezahlen. Als ob der Kassierer Gedanken lesen konnte, hat er uns freundlich lächelnd durchgewinkt. Wahrscheinlich konnte er uns den ganzen Weg auf seinen Bildschirmen beobachten und das war wohl die einzige Abwechslung seines ganzen Arbeitstages.
Nach dem Tunnelerlebnis verschwand Olga erst einmal für längere Zeit im Toilettengebäude und hat sich mit Unmengen von Papierhandtüchern wieder trocken gelegt.
Der Tag geht weiter (Nebel, Regen, Berge)
Nach dem Tunnel waren es noch ungefähr 50 Kilometer zum Kap. Wir beschlossen, in Honnigsvag zu essen, um dann weiterzufahren. Als wir sahen, dass der Ort direkt am Meer lag und wir die Steigung, die wir gerade erklommen hatten, in anderer Richtung wieder hinunter müssten, um sie dann nach dem Essen wieder zu fahren, sind wir kurzerhand in ein Hotel an der Straße eingekehrt.
Allerdings war die Küche bereits geschlossen, keine Gäste mehr da und überhaupt. Wir haben der netten jungen Dame an der Rezeption erklärt, dass wir ohne Nahrung unsere Mission nicht erfüllen könnten und dass Olga heute außerdem Geburtstag hätte. Das war für sie Grund genug, einen Teil der Küche zu reaktivieren und uns bestens zu bedienen.
Die Norwegerinnen und Norweger sind toll. Wohl genährt und voller Tatendrang haben wir uns dann auf die letzten Kilometer gemacht. In der Zwischenzeit hat es wieder zu regnen begonnen und Nebel kam auf – und das Streckenprofil hat sich wieder zu fast hochalpin gemausert.
Auf der ganzen Fahrt haben wir uns gesagt, das Nordkap liegt fast auf Meereshöhe, das ist nicht so schlimm; irgendwann geht’s lange bergab. Irgendwann war nie! Also, wir haben uns mit letzter Kraft zum Campingplatz in Skarsvag gerettet. Tatsächlich gab es auch noch eine freie Hütte und so konnten wir uns unseres Gepäcks entledigen.
Olga gab mir klar zu verstehen, dass sie auf keinen Fall mehr weiterfahren würde, heute nicht, morgen nicht, überhaupt nicht. Kein Tunnel mehr, keine Steigung, nichts. Selbst das Argument, dass wir bereits über 2.600 Kilometer gefahren waren und nur noch 13 Kilometer vor uns lägen, konnte sie von der Notwendigkeit einer Weiterfahrt nicht überzeugen.
Erst die Aussage, dass wir es dann ein, zwei Jahre später noch einmal probieren müssten und die sanfte Drohung, dass ich die letzten Kilometer allein fahren würde, sowie das Versprechen, dass ich sie zeitweise schieben würde, falls sie sich zum Weiterfahren entschlösse, konnte sie erweichen. Und so haben wir uns warm eingepackt, nur das Nötigste mitgenommen und sind losgefahren.
Die letzte Hölle
Es waren die schlimmsten 13 Kilometer der ganzen Tour: es regnete, es war neblig, saukalt (wir hatten alles an Handschuhen an, was wir mitführten, jeder drei Paar übereinander), der Wind war fast stürmisch und kam wie fast immer von links vorne und es ging ständig bergauf und bergab. Der Wind war so stark, dass wir bergab treten mussten. Immer, wenn von hinten ein Touristenbus kam und uns überholte, drückte uns der Luftdruck nach rechts und wir mussten gegenlenken, dann waren wir eine Zeit lang im Schutz des Busses, bis er vorbei war. Danach erfasste uns der Sog des Busses und wenn er abbrach, bekamen wir schlagartig die Kraft des schrägen Gegenwindes zu spüren.
Olga hat es aufgrund dieser Verhältnisse zweimal einfach umgeweht.
Endlich, nach einer Stunde letzten Kampfes und völlig erschöpft haben wir das Nordkap gesichtet und dann auch erreicht. Glücklich waren wir nicht, zumindest nicht an diesem Tag. Olgas Geburtstag endete unter völliger körperlicher Erschöpfung von uns beiden. Aber wir hatten es geschafft. So haben wir erst einmal unsere 35 Karten an Freunde und Verwandte geschrieben. Ja, 35. Ich habe zu Hause Adressaufkleber vorbereitet und auf anderen Aufklebern einen Standardtext formuliert, in dem wir handschriftlich nur die Anzahl Tage und die Gesamtkilometer ergänzen mussten. Das sieht dann so aus wie auf der Postkarte, die wir uns selbst geschickt haben.
Dann haben wir als Nachweis unser obligatorisches Nordkapfoto gemacht und eine Kleinigkeit gegessen. Natürlich hatte in der Zwischenzeit der Regen aufgehört, der Nebel sich ziemlich gelichtet und der Wind stark nachgelassen. Trotzdem haben wir beschlossen, den Weg zum Camping-Platz mit dem Bus zu fahren.
Wieder in der warmen Hütte angekommen, schworen wir uns, so eine Tour nie mehr zu fahren - vier Wochen später haben wir uns Unterlagen von Australien und dem Stuart-Highway besorgt.
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